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Materialgeschichte(n)

In ihren dichten, atmosphärischen Arbeiten verwebt Alexandra Navratil aktuelle Fragen zu bildbasierten Medien mit deren Industrie- und Technologiegeschichte. Fotografie und Film, das stille und das bewegte Bild, sind im Vergleich zu anderen bildformulierenden Medien vergleichsweise jung. Navratil ermöglicht eine Reise in die Vergangenheit, in die Historie und schafft den Bezug in die Gegenwart durch kluge Verweise und beinahe minimale Eingriffe in die verwendeten Ursprungsmaterialien.

Mit Rachel de Joode tauchen wir ein in eine Welt, die uns nah und gleichzeitig fremd erscheint: Ein fotografisches Bild eines Objektes repräsentiert dieses Objekt. Für sie befreit die Fotografie das Objekt von seinem materiellen Körper. Die technologischen Veränderungen – Bildschirme nehmen eine wichtige Funktion in der Bildbetrachtung und Rezeption ein – haben einen grossen Einfluss auf unsere Wahrnehmung: Rachel de Joodes Arbeiten siedeln sich im Grenzraum zwischen analoger Materialerfahrung und digitaler Reproduktion an.

Beide Künstlerinnen verbinden das Gestern mit dem Heute und brechen lustvoll mit möglicherweise tradierten Vorstellungen darüber, wie sich das Medium Fotografie heute manifestiert.

 

 

Alexandra Navratil (*1978) lebt und arbeitet in Zürich und Amsterdam. Zudem unterrichtet sie in Basel am Institut Kunst. Ihr Werk wurde schon mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Manor Kunstpreis Kanton Zürich (2013). Sie wird repräsentiert von den Galerien Dan Gunn (Berlin) und BolteLang (Zürich).

Ausgangspunkt für Alexandra Navratils (*1978, lebt und arbeitet in Zürich und Amsterdam) Schaffen sind wissenschaftlich-historische Recherchen zu den Anfängen der Fotografie und Filmgeschichte. Durch die Animation und filmische Anordnung von gefundenem Bildmaterial erzählen Navratils Werkzyklen Industriegeschichte und zeigen nicht nur, wie diese Aufzeichnungen in Archiven verwahrt sind, sondern auch dem Material selbst eingeschrieben sind.

1909 gründete die AGFA AG die Filmfabrik Wolfen. Neben Filmen für die Fotografie wurden in der später mit der Marke ORWO bekannt gewordenen Fabrik Kinofilme, Reprografie- und Röntgenfilmmaterial, technische Filme und Platten sowie Magnetbänder hergestellt. Zu DDR-Zeiten war die Fabrik die grösste Produktionsstätte und hatte das Monopol zur Herstellung von Film. Die Inspiration zur AGFA-Trilogie, die zum ersten Mal als gesamter Werkzyklus zu sehen ist, entspringt in und um die Fabrik, deren Geschichte und Relevanz für die Mediengeschichte.

«Resurrections» (2014) konzentriert sich auf das Ursprungsmaterial des Filmträgers: Gelatine. Um flüchtige Bilder einzufangen und vor allem zu fixieren, waren Silber und Salz integrale Bestandteile eines Prozesses, der nicht nur das Bildermachen, beispielsweise mit der seit dem Mittelalter bekannten camera obscura möglich machte, sondern deren Fixierung auf einem Träger. Fotografie wurde erst zur Erfolgsgeschichte durch die Verwendung von Gelatine als Träger für die lichtempfindlichen Silbersalze. Das Gelatineverfahren verdrängte aufgrund seiner Vorteile, besonders der gleichbleibenden Herstellungsqualität und Haltbarkeit der Platten vor der Aufnahme und Entwicklung, den Kollodiumprozess zur Herstellung von Naßplatten[1] weitgehend. Hauptbestandteil von Gelatine ist Kollagen, das aus dem Bindegewebe verschiedener Tierarten wie Schweinen und Rindern produziert wird. Das für die analoge Fotografie und das Kino unabdingbare organische Material verweist auf die Ursprünge des Mediums in den 1830er Jahren. Für die Videoarbeit «Resurrections» arrangiert Navratil gefundene Fotografien und Filmsequenzen aus Bildmaterial, welches aus mehreren deutschen Archiven stammt, zum Beispiel aus dem Deutschen Bundesarchiv: Das Nebeneinanderstellen, Übereinanderlagern sowie teilweise Überblenden wird durch die klare Farbgebung in Schwarz/Weiss reduziert und verdichtet. Teile von Maschinen, Haufen von Tierknochen, die bereit für die Produktion von Gelatine aufgeschichtet wurden, Labormitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kitteln erinnern an andere, bekannte Bildwelten: Die Gräueltaten der Nationalsozialisten. In dieser Erzählweise – und in der Einschreibung in die Materialgeschichte der Fotografie – liegt eine weitere Schichtung verborgen. AGFA war Teil der Firma I.G. Farbenindustrie AG, gegründet 1925 und seinerzeit das grösste Chemieunternehmen der Welt.  Die Verbindungen, die Alexandra Navratil impliziert und illustriert, entfalten sich frei von den Anfängen der organischen Chemie bis hin zur Verwendung organischer Materialien für Produkte, die hoch artifiziell sind, und der Verbindung der Foto- mit der Chemie-Industrie.

Dr. Fred Walkow war ein Angestellter der Filmfabrik Wolfen und fotografierte obsessiv den künstlichen See, der sich in unmittelbarer Nähe zu seiner Arbeitsstätte befand. Der Silbersee, in dem das verschmutzte Wasser aus der Filmproduktion entsorgt wurde, wird zum Hauptprotagonisten in der gleichnamigen Videoarbeit aus dem Jahr 2015.  Beim Silbersee handelte es sich ursprünglich um ein Restloch des Kohlebergbaus. Silberchemie wurde zwar nicht im See entsorgt – dafür war sie zu wertvoll – aber Abwässer aus der Kunstfaserproduktion, die schwefelhaltige Schlämme enthielten. Der Silbersee galt bis zur Wende als der am stärksten verschmutzte Ort Deutschlands und die ehemaligen Arbeiter sowie die Anwohnerinnen und Anwohner litten deswegen lange unter gesundheitlichen Beschwerden. Dr. Walkow hatte Alexandra Navratil sein persönliches Archiv überlassen – ausgehend von seinem Archiv entwickelte die Künstlerin die Arbeit.

Die Landschaftsbilder, die «Silbersee» dominieren, zeigen oft einen ähnlichen Ausgangspunkt, eine wiederkehrende Perspektive, die der Fotograf eingenommen hat. Navratil wählt ein langsames Erzähl-Tempo und versieht die ineinander übergehenden Bildsequenzen mit Textfragmenten, die das Erlebnis eines uns unbekannten Subjekts schildern: Es bleibt unklar, ob es sich bei diesem Subjekt um eine Person, die gezeigte Umgebung oder den See handelt.

Die Videoarbeit «The Night Side» ist ein ungewöhnliches Portrait der Arbeiterinnen, die in den Fabrikhallen in fast vollständiger Dunkelheit während langer Schichten lichtempfindliche Materialien produzierten. Die Abläufe der Arbeiterinnen wurden durch die Absenz der Wahrnehmung über die Augen bestimmt: Die Orientierung wurde bestimmt durch die Verinnerlichung von haptischen Anhaltspunkten, Repetitionen und sonorer Signale.

Wir folgen in «The Night Side» Gundula Brett, einer Arbeiterin die während mehr als 25 Jahren für die AGFA AG tätig war: Ihr Körper wird zur bewegten Erinnerung an die damaligen, in hundertfacher Repetition ausgeführten Bewegungen. «Mein Leben war die Dunkelkammer, und später, wenn ich nicht mehr lebe, wird es wieder dunkel.»

[1] In den Jahren 1850/1851 entwickelten Frederick Scott Archer und Gustave Le Gray eine fotografische Platte, die als Ambrotypie oder durch ein Negativ-Verfahren eine Fotografie erzeugt: Die Kollodium-Nassplatte. Das dazugehörige Verfahren wird als nasses Kollodiumverfahren oder Kollodium-Nassplatten-Verfahren bezeichnet und setzt eine zur Anfertigung der Fotografie zeitnahe Verarbeitung voraus. Beispielsweise musste ein mobil arbeitender Reisefotograf in der Frühzeit der Fotografie immer ein Dunkelkammerzelt mit sich führen.

 

Rachel de Joode (*1979, Holland) lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Medienkunst an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam. Sie wurde unter anderem mit dem Deutsche Börse Residenzstipendium am Frankfurter Kunstverein, der Sculpture Space Residenz und einer Residenz im LMCC, Governors Island, New York ausgezeichnet. 2017 hat sie einen Lehrauftrag an der ECAL in Lausanne.

In der Ausstellung befragt Rachel de Joode (*1979, lebt und arbeitet in Berlin) mit ihren Arbeiten den Raum – spezifisch den Ausstellungsraum – in Bezug auf seine Ästhetik, die für das zeitgenössische Kunstgeschehen, und besonders dessen Zirkulation online prägend sind. Ihre Untersuchungen siedeln sich im Übereistimmungsraum zwischen dreidimensionalem Kunstwerk und seinem zweidimensionalen Gegenstück an.

Das Digitale war und ist nicht immateriell, wie Felix Stalder in seinem in diesem Jahr erschienenen Buch «Kultur der Digitalität» ausführt. Die flüchtigen Impulse digitaler Kommunikation beruhen auf globalen materiellen Infrastrukturen, die von Minen tief unter der Erdoberfläche, in denen Metalle der Seltenen Erden abgebaut werden, bis ins Weltall, wo Satelliten die Erde umkreisen, reichen. In unseren Alltagserfahrungen sind diese Verbindungen kaum sichtbar und werden daher oft ignoriert – sie verschwinden jedoch nicht und verlieren auch nicht an Bedeutung. Digitalität verweist historisch auf neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung unterschiedlichster menschlicher und nichtmenschlicher Akteure. Hier trifft sich Rachel de Joodes Herangehensweise mit Stalders Ausführung: Der Begriff der Digitalität ist nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster auch in analogen Kontexten auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.

 

Alle in der Ausstellung präsentierten Arbeiten sind neu entstanden und zeugen von Rachel de Joodes kürzlich entdeckter Faszination für Bühnenbild und das Marionettentheater. Das Gefühl, sich klein zu fühlen – wie eine Ameise – gefalle ihr und dient als weiterer Ausgangspunkt der Auseinandersetzung. Eine kleine Ameise auf dem gigantischen Planeten Erde, wobei letztere sich wiederum in einem unendlich wirkenden Universum bewegt. Ihr Umgang mit Proportionen zeugt von dieser anekdotischen Ausführung: Die Werke «Stacked Sculptures» füllen den grössten Ausstellungsraum mit ihrer Präsenz und lassen uns auf unsere eigene, im Verhältnis geringere, Körpergrösse zurückfallen. Im Ausstellungsraum spielt die Künstlerin geschickt mit dem Umstand, dass unsere Wahrnehmung durch die Technologien, die uns umgeben, konditioniert wird: Wir sehen, denken und bewegen uns rund um die Objekte, und auch wenn ihre Arbeiten nicht direkt mit technologischen Fragestellungen per se zusammen hängen, verweisen sie trotzdem auf die zeitgenössische visuelle Kultur der Digitalität. Materialien wie Ton, Farbe und Giessharz bearbeitet sie mit ihren Händen und nimmt diese «Konversation» fotografisch auf. Aus diesen Aufnahmen wählt sie bestimmte Elemente aus. In einem weiteren Schritt schichtet sie diemit den Händen entwickelten Bilder mit der Software Photoshop als einzelnen Teile aufeinander. Die einzelnen zweidimensionalen Skulpturen werden als Gruppe angeordnet und erzählen von De Joodes Interesse, die Kampfzone zwischen der Körperlichkeit des Bildes im Raum und dem Bild an sich auszuloten. Die einzelnen Formen wirken, obschon abstrakt, dinghaft und erinnern an eine Frage, die sich die Künstlerin im Laufe des Prozesses stellt: Wie ist es, ein Ding zu sein?

Das Triptychon im hinteren Raum besteht aus drei kleinen, wie für ein Theaterstück inszenierte Atelierperformance. Die Künstlerin wird zur Schau-stellenden, ihre Hände bearbeiten und zeigen gleichermassen keramische Objekte, erzeugen Farbkleckse oder platzieren ein Miniatur-Werk auf einem Sockel. Der Modellraum wird zum Bildträge, die Grenze zwischen der haptischen Qualität der Objekte und ihrer flachen fotografischen Reproduktion wird verwischt. Die präsentierten keramischen Objekte sind Zeugnisse der Prozesse im Atelier, flüchtige Gesten festgehalten in Ton, gebrannt und glasiert.

Rachel de Joodes Umgang mit Materialien oszilliert zwischen klassischer Bildhauerei und Umsetzungen, die in heutigen, von digitalen Ästhetiken bestimmten Bildpraxen angesiedelt sind. Frühere Arbeiten können dem klassichen Malerei- und Fotografiegenre des Stilllebens zugeordnet werden. Heute sind es Hybride –fotografische Skulpturen oder skulpturale Fotografien. Befragt zu ihrem Interesse an der Fotografie als Medium erläutert die Künstlerin deren Funktionalität: Wie vereinfachend und flach-machend die fotografische Sprache arbeitet und wie sie – zumindest gemeinhin verstanden – die Realität repräsentieren soll. Sie verweist auf Roland Barthes: Die Beglaubigung der vergangenen Realität ist durch andere Bildarten nicht gegeben; diese imitierten, während die Fotografie bezeuge. Somit wird zeitweilig dieses «Es-ist-so-gewesen» als ihr Wesen, oder ihr noema (Sinngehalt), postuliert. Insofern funktioniert die Fotografie als die Verlängerung der Geste eines kleinen Kindes, das auf etwas zeige und sagt: «das da, genau das, dieses eine ist’s». Rachel de Joode Auseinandersetzung geht weiter: Mit der Doppelung der Bildebenen unterwandert sie die vermeintliche Abbildfunktion der Fotografie und verwischt die Grenze zwischen digitalem Abbild, Objekt und Werk im Ausstellungsraum.

 

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Ausstellungsansicht Rachel de Joode © Julie Lovens

Ausstellungsansicht Rachel de Joode © Julie Lovens

Ausstellungsansicht Rachel de Joode © Julie Lovens

Ausstellungsansicht Alexandra Navratil © Julie Lovens

Ausstellungsansicht Alexandra Navratil © Julie Lovens

Ausstellungsansicht Alexandra Navratil © Julie Lovens